Selbst dem Kuckuck ist nicht mehr zu trauen
Vor vielen Jahren lebte in Poschiavo ein Bauer namens Antonio, der vor allem dafür sorgte, dass seinem Vieh niemals das Futter ausging.
Wenn nun heubedürftige Nachbarn zu ihm kamen und ihn baten, er möge ihnen aushelfen, denn der Frühling sei ja nahe und alle Anzeichen auf ein gutes Heujahr vorhanden, war sein Letztes immer: «Ich traue niemandem mehr als dem Kuckuck. Bevor ich seinen Ruf nicht höre, verkaufe ich kein Heu.»
«Ei! So schön wie der Kuckuck kann ich auch rufen und singen», dachte einmal ein Schalk, der in Heuverlegenheit war, und ging in ein nahes Wäldchen, wo er den Ruf des prophetischen Vogels bestmöglich nachahmte. Als er zurückkehrte, winkte Antonio, unter der Stalltüre stehend, ihn heran: «Jetzt kannst Du kommen, Gevatter, wenn du Heu willst; ich habe den Kuckuck gehört und dem alleine traue ich.» Der Gevatter, nicht faul, holte Heutuch und Waage und kam so zu Futter für sein Vieh.
Am folgenden Morgen aber raufte Antonio sich die Haare, als frisch gefallener Schnee weit und breit die Bergwiesen bedeckte.
«Selbst dem Kuckuck ist nicht mehr zu trauen», war von da an seine Redensart.