Die Höhle bei San Romerio
Wir blicken zurück ins Puschlav des ausgehenden 14. Jahrhunderts, eine unruhige Zeit, in der die Bündner bei ihren Eroberungszügen auf die Truppen des Herzog-tums Mailand stiessen.
Drei junge Waisenschwestern, Abkömmlinge eines Herrschergeschlechts, wollten sich vor den grausamen Soldaten aus dem Norden in Sicherheit bringen. Die älteste, Geltrude, Nonne im hiesigen Kloster, und die jüngste, die reizvolle Bianca, versteckten sich in einer Höhle direkt unter der kleinen Kirche San Romerio. Jolanda hingegen wurde von ihrem Onkel Gaudenzio de Olzate, dem Vogt der Burg Pedenale, adoptiert. Er selbst war gütig und barmherzig, doch sein Sohn Egidio galt als hinterlistig und böse. Gaudenzio verehrte seine Nichte und hätte sie gerne seinem Sohn zur Frau gegeben. Jolanda fühlte sich durchaus hingezogen zum stattlichen Egidio, doch ihre Gefühle wurden nicht erwidert.
Eines Tages ging Egidio im Gebiet San Romerio auf die Jagd. Als ihn ein Sturm und Nebel überraschten, stürzte er mit seinem treuen Hund einen Abhang hinunter. Doch er hatte Glück und sein Fall endete an einem kleinen Felsvorsprung, genau vor der Höhle, in der Geltrude und Bianca Zuflucht gefunden hatten. Die Schwestern pflegten den verwundeten Egidio hinge-bungsvoll. Bianca war völlig verzaubert von dem jungen Unbekannten. «Ich heisse Reto und komme aus Le Prese», schwindelte dieser. Sie ahnten nicht, dass sie es mit dem Sohn des Burgvogts von Pedenale zu tun hatten. Geltrude vertraute ihm an, wer sie war, und dass sie nach dem Ende der Tumulte zusammen mit der Schwester ins Kloster gehen würde. Sie verriet ihm auch, dass die dritte Schwester Gast in der Burg Pedenale war; ihr Onkel sei sehr gütig, doch sein Sohn sei dem Vater nicht würdig.
Nach einer Woche war der verunglückte Jäger wieder auf den Beinen. Dies auch dank der Pflege durch Bianca, die sich in den schönen jungen Mann «aus Le Prese» verliebt hatte. Egidio machte sich auf den Weg ins Tal und wurde in Pedenale mit grossem Jubel empfangen. Er erzählte dem Vater von seinem Unglück, ohne jedoch den Namen der beiden Retterinnen preiszugeben. Er war traurig und verwirrt, doch plötzlich war er auch milde geworden.
Egidio konnte nicht lange in der Burg bleiben, denn schon bald kündigten die Glocken von San Vittore die Ankunft der Bündner Soldaten an und er musste als Anführer der Talmiliz zur Verteidigung der Burg antreten.
Nach hartem Kampf wurden die Soldaten hinter den Bernina zurückgedrängt. Egidio wurde verwundet, doch am nächsten Tag stieg er den steilen Hang von Spüligalb hinauf und erreichte die geheime Höhle. Er offenbarte seine adlige Herkunft und bat Bianca um seine Hand. Völlig überwältigt und glücklich verlor die junge Frau alle Sinne, sank zu Boden und erholte sich nie wieder.
Nach einigen Tagen entschlief Bianca für immer. Der tiefe Schmerz machte Egidio traurig und schweigsam. Er wurde wieder zu der bösartigen Person, die er vor der Begegnung mit der jungen Frau gewesen war. Doch als Zeichen seiner Liebe begrub er den Körper seiner Braut in der Höhle unter der Kirche San Romerio.