Das nächtliche Arbeiten
Zu Beginn der Heu- und Emd-Ernte vernimmt man in einigen Weilern oder Höfen von Poschiavo nicht selten abends spät das «Dängeln» (Sensen schärfen). Niemand weiss genau Ort und Stelle anzugeben, wo der Ton herkommt, denn, wo immer man ihn auch sucht, hört man ihn in einem anderen Hofe.
Über den Grund dieses nächtlichen Dängelns herrscht im Volke die Meinung, dass diejenigen Bauern, welche aus Geiz und «Strenge» ihre Sensen an Sonn- und Feiertagen dängelten, nach ihrem Tode dieses Geschäft bei Nachtzeit verrichten müssen.
Ähnliches hört man hie und da im Spätsommer, wenn die Bauern ihr Korn zu reinigen pflegen. Ohne zu wissen, woher der Ton dringt, vernimmt man deutlich tic, tic, tic. Nun behaupten viele, dass dieses Klirren und Klappern von Verstorbenen herrühre, die dazu verdammt seien, diese Beschäftigung des Kornreinigens auch nach dem Tode zu treiben, weil sie bei Lebzeiten an Feiertagen das Korn gereinigt haben.
Bis vor ein paar Jahrzehnten reinigte man in Poschiavo das Korn vielerorts noch auf eigentümliche Weise: Man trug das zu reinigende Korn auf einen Hügel oder an einen Ort, wo der Wind stark zog; man breitete Tücher auf dem Boden aus, füllte ein Kornmass mit Getreide und liess dieses auf das Tuch «herabrinnen». Da die Kornmasse mit losen Ringen aus Eisen behängt und verziert waren, verursachten sie durch Anschlagen mit einem Stabe beim Reinigen des Kornes ein tic, tic, tic, das weithin gehört wurde.