Die Legende von San Sisto
Das Quartier von Poschiavo, das an der Strasse nach Cologna liegt, trägt den Namen San Sisto. Es ist ein relativ junges Quartier, in dem der gleichnamige Talspital besonders ins Auge fällt. Der Name dieses Quartiers ist aber keineswegs neu, im Gegenteil: seit Menschengedenken trugen die Wiesen und Felder, die später mit Häusern überbaut wurden, den Namen San Sisto. Jeder Name hat jedoch seine Geschichte und falls er keine wahre Geschichte hat, so steht zumindest eine Legende Pate. So ist es auch im Fall von San Sisto. Wir besitzen kein historisches Zeugnis, das belegt, wie es zu diesem Namen gekommen ist, doch gibt es eine reizvolle Legende, die den wenigsten bekannt ist, die jedoch einen Kern von Wahrheit enthalten könnte und die mit der Gegend des heutigen Quartiers San Sisto verbunden ist.
Diese Legende erzählt von der dunklen Zeit der Christenverfolgung durch die Römer. Die Valposchiavo war damals noch unbewohnt und der Talboden war ein Sumpfgebiet, da der Poschiavino, noch ohne Dämme, nach Belieben in alle Richtungen fliessen konnte. War das Tal auch unbewohnt, so gab es doch eine römische Strasse, die es durchquerte. Diese führte von Süden her zunächst über die heutige Alpe San Romerio und dann hinab zum Talboden, entlang dem Sumpfgebiet auf der Ostseite des heutigen Borgo von Poschiavo, um dann wieder bis zum Bernina-Pass aufzusteigen. Ungefähr um das Jahr 250 nach Christus gelangten einige Römische Reiter, Soldaten des Kaisers Decius, die nach Raetien unterwegs waren, in die Gegend des heutigen Quartiers San Sisto. Sie schlugen ihr Lager für eine zwei bis dreitägige Rast auf und brachen dann wieder Richtung Norden auf, mit der Absicht, nicht mehr an den Ort zurückzukehren, sondern den Rückweg über den Septimer einzuschlagen. Sie marschierten ab, ohne zu wissen, den Grundstein eines neuen Dorfs gelegt zu haben. Die Pferde frassen nämlich nicht den ganzen Hafer, und ein Teil davon fiel auf den Boden, wo er fruchtbare Erde fand, er keimte aus und im darauffolgenden Sommer konnte man da, wo sich zuvor das Lager der Soldaten des Decius befand, ein schönes Kornfeld bewundern. Wenige Tage bevor dieser Hafer bereit für die Ernte war, kamen wieder Menschen an diesem Ort vorbei. Dieses Mal handelte es sich nicht um Soldaten, sondern um ein paar Christen, die von Italien her kommend nach Norden zogen, um den Verfolgungen durch Decius zu entgehen. In Anbetracht des Kornfeldes glaubten sie, sich in der Nähe eines Dorfes zu befinden, aber soviel sie auch suchten, sie fanden keinen einzigen Hof. Also dachten sogleich, dass es sich dabei um eine Gnade und um ein Zeichen Gottes handeln müsse und beschlossen, sich hier niederzulassen. Schon nach kurzer Zeit erhob sich in der Nähe des wundersamen oder zumindest geheimnisvollen Kornfelds ein kleines Dörfchen, aber niemand nahm sich die Mühe, ihm einen Namen zu geben. Das würde sowieso niemanden interessieren. Und das Völklein lebte von den Früchten der Erde, dem Wild, das sich reichlich an den Hängen des Sassalbo jagen liess, und von den Fischen in den Bächen, in den Sumpfweihern und dem nahen See. Von Zeit zu Zeit kam ein vereinzelter Reiter vorbei, ein Pilger oder ein Flüchtling aber abgesehen davon herrschte in dem namenlosen Dorf Frieden, Ruhe und Wohlergehen.
Dabei vergassen diese guten Leute nicht den lieben Gott und die Lehren seines Sohnes, Jesus Christus, und sie beschlossen daher, ein Kirchlein zu bauen, um einen Ort zu haben, wo sie sich zum gemeinsamen Gebet versammeln konnten. Es handelte sich dabei aber nur dem Namen nach um eine Kirche: Sie war nicht geweiht und man feierte darin weder die Eucharistie noch die Messe. Es fehlte nämlich der Priester. Der Dorfälteste, der lesen konnte, brachte jeweils eine Bibel mit und las der Gemeinde einige Abschnitte aus den Evangelien oder aus den Briefen des Apostel Paulus vor. Die Dorfbewohner waren überzeugt, dass der liebe Gott ihnen früher oder später zeigen würde, wo sie einen Priester finden könnten.