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Das Hexenhaus

Das Hexenhaus

Von den Ruinen in Prada Alto hat wohl keine so viel Bedeutung erlangt wie jene, die im Volksmund «Hexenhaus» genannt wird. In diesem Hause wohnte vor langer Zeit eine Witwe mit ihrem Sohn Antonio. An einem Abend sagte der zu seiner Frau Margaritha, einem wohlhabenden Mädchen: «Bereite mir morgen früh das Essen, ich möchte nach Sassiglion um Heu gehen»! Noch bevor die goldene Morgenröte des folgenden Tages erglühte, waren Speise und Fuhrwerk bereit. Als Antonio aufbrechen wollte, bemerkte er, dass auch seine Frau sich anschickte, mit ihm auf den Berg zu gehen: «Ich will mit Dir gehen, denn ich muss Dich vor grosser Gefahr bewahren, ja sogar vor dem sicheren Tode retten», sagte Margaritha. «Nun, so komm!», antwortete Antonio. Ohne besondere Hindernisse langten sie auf dem Berggute an. Nach genommenem Imbisse und das Heu gut auf die Schleife geladen verliessen sie den Wiesenplan und legten eine gute Strecke ohne Störung zurück. Da blieb plötzlich die vor dem Fuhrwerke hergehende Frau stehen, wendete sich rasch zum Mann um und rief ihm mit erregter Stimme zu: «Gib die Axt her, ich muss die Wurzel abhauen, die quer über den Weg wächst, sonst bist Du verloren». Der Mann reichte ihr schnell die Axt und mit raschem Hiebe schnitt sie die Wurzel entzwei, bevor Antonio davor stand. Die zwei setzten den Weg unbeirrt fort und kamen wohlbehalten bei ihrem Hause in Alto an. 
«Was ist das?», fragte Antonio erschrocken. «Woher kommen diese Klagetöne?». Sofort eilte er in die Stube, wo sich ihm eine herz-zerreissende Szene bot: Seine alte Mutter lag mit weggeschnittenen Füssen auf ihrem Bette und schrie erbärmlich vor Schmerz. Margaritha gab ihm durch einen Wink zu verstehen, dass sie nun alles wisse, und gab folgende Erklärung: «Die dicke Wurzel, die ich auf dem Wege entzweihieb, war deine leibhaftige Mutter, und dass dir ein Unheil drohe, war mir wohl bekannt; deshalb ging ich mit auf den Berg». «Als ich letzte Nacht durch einen bösen Traum geweckt wurde, hörte ich unten im Keller oder im Stalle einen lauten Schrei, wie von einer Person, der etwas geschieht. Ich vernahm Stimmen von zweien, die im Streite liegen mussten: ‹Warum hast du die Hexerei, die ich dir gestern auftrug, heute nicht ausgeführt?›, fragte die eine Stimme, die von einem Mann herzurühren schien, ‹Hältst du so dein Wort, du Unglückliche?›». «Wer war dieser Mann und wer die arme Frau? Niemand anders, als der Böse selber und deine Mutter, die nach der Aussage der Leute eine Hexe ist. Es hat mich grosse Mühe gekostet, dem Gerede der Leute zu glauben, umso mehr, als sie meine Schwiegermutter geworden ist. Aber das, was ich letzte Nacht mit eigenen Augen gesehen habe, hat mir die Überzeugung verschafft, dass diese von Wunden entstellte Frau, deine Mutter, wirklich eine Hexe ist, die mit dem Bösen in Verkehr steht». «Um den weiteren Schlägen ihres Peinigers zu entgehen, hat sie gerufen: ‹Halte ein mit deiner Strafe und ich verspreche dir, morgen meiner Pflicht doppelt nachzukommen; mein Sohn geht auf den Berg um Heu, und da will ich ihm den Hals brechen.› Nun liess der Teufel los und ich vernahm von da an nichts mehr, fasste aber den Vorsatz, dich zu retten. Indem ich jene Wurzel entzweihackte, hackte ich der Hexe, die sich in wenigen Augenblicken dir um den Leib sich geschlungen hätte, die Beine ab». «Was muss ich hören? Ist das wahr, Mutter?», stöhnte Antonio. «Wehe mir, drei Mal wehe», schrie die Mutter, soweit die Kraft es ihr zuliess. «Ich bin unschuldig und rufe Gott zum Zeugen an.» Antonio, seiner Frau Glauben schenkend und vom Aberglauben befangen, hielt seine Mutter für eine Hexe und ging sogleich nach Poschiavo zum Podestà, dem er den Vorfall erzählte. Der schickte die Gerichtsdiener und liess die arme, schrecklich verstümmelte Frau aufs Rathaus schleppen. Schon am folgenden Tag klang der düstere Ton der Gerichtsglocke durchs Tal und rief den gestrengen Herrn Magistrat zur Sitzung für das peinliche Gericht. In ihre Mäntel gehüllt, die Degen an der Seite, sassen die Richter auf ihren Polstern. Tiefer Ernst sprach aus ihren Gesichtern, denn es war über ein Verbrechen zu untersuchen und über Leben und Tod zu urteilen. In der Ecke kauerte die arme Alte. Verflucht von den Menschen erwartete sie bebend ihr Schicksal. Der Prozess nahm seinen Anfang. Die Arme wurde gefragt, ob sie sich als Hexe bekenne und mit dem Teufel im Bündnis stehe. Sie antwortete wiederholt und schluchzend: «Nein». «Nun ja!», rief der Podesta unwillig aus. «Von allen Frauen, die wir hier, an der Stätte der Gerechtigkeit (!) zu verhören hatten, wollte keine ihre Schuld offen bekennen, man musste immer zur Tortur und zur Zeugenvernahme schreiten, und so werden wir es auch heute machen müssen.» So wurde an der armen Frau das erste Mittel zum Bekennen angewendet, die Tortur. Das schreckliche Mittel blieb fruchtlos. Nun schritt man zum Zeugenverhöre. Zuerst wurde der Kläger, nämlich der Sohn der Beklagten, vernommen. «Sage Du, Ofen, ob meine Mutter wirklich eine Hexe ist, oder nicht!». Und siehe! (höre!): Aus dem Ofen ertönte ein vernehmliches «Ja!». «Was braucht man noch mehr? Einen deutlicheren Beweis hat nie ein Gericht gehabt», urteilte der Richter. «Schreiten wir zur Abfassung des Urteils.» Dieses lautete einstimmig auf «schuldig» und die unglückliche Alte wurde ohne weitere Umstände vor der Beifall zollenden Menge durchs Feuer vom Leben zum Tode gebracht. Als Opfer der Unwissenheit und des Aberglaubens verschied die arme Mutter auf dem Scheiterhaufen. Ihr Haus wurde, um der «Gerechtigkeit» zu genügen, abgebrannt. Zudem wurden oberhalb der Türe der Ruine zwei sich kreuzende Schlüssel eingemeisselt, das Gerichts- und Gemeindewappen, zum Zeichen, dass jenes Haus nicht wieder aufgebaut werden dürfe, weil es unter den allgemeinen Fluche gefallen war. Diese Brandmarkung war noch vor wenigen Jahren sichtbar und die Ruine wird heute noch «casa delle streghe» (Hexenhaus) genannt.

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